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»Der Washingtonplatz an der Südseite ist voller Menschen, Fahnen und Transparente. Auch einige Großpuppen sind dabei, darunter auf einem Wagen die Kanzlerin, zündelnd an einer Bombe, die inmitten des Parlaments die Demokratie in die Luft zu sprengen droht. Die Stimmung ist dennoch fröhlich, die Sonne scheint, auf der Brücke vor dem Haus der Bundespressekonferenz wird Tango gegen TTIP getanzt.« schrieb Haidy Damm am 12. Oktober auf neues-deutschland.de

Liebe Tangueras und Tangueros,

der bei einem Brainstorming nur halb im Spaß ausgesprochene Satz »Tango gegen TTIP« wurde Programm. Und hätte dank Euch vielleicht eine Chance, den Preis der minimalistischsten Kampagne zur Mobilisierung für den 10. Oktober zu gewinnen, wenn es ihn gäbe.

Ein Slogan, zwei Leute und die Verknüpfung zweier sozialer Netzwerke — das digitale Netzwerk von FB und das internationale der Tango-community — vielmehr war es eigentlich nicht, womit wir statt der erhofften 200 über 400 Tangotänzerinnen und -tänzer aus der ganzen Republik nach Berlin gelockt haben.

Früher als wir selbst hat die Demo-Leitung in Berlin unser Mobilisierungspotenzial erkannt. Jörn Alexander, der unermüdliche Campaigner im Berliner Büro des bundesweiten Trägerkreises erzählte backstage nach der Abschlusskundgebung, »Tango gegen TTIP auf der Kronprinzenbrücke« sei das Highlight der Pressekonferenz wenige Tage vor dem 10. Oktober gewesen.

Diese Brücke, die Jörn für uns organisiert hatte, war ein absolutes Sahnestückchen: schwebend über dem Spreebogenpark und mit freiem Blick auf den Washington Platz vor dem Hauptbahnhof, wo die Auftaktkundgebung stattfand. In den Pausen zwischen zwei Tangos wehten Musik und Redefetzen vom Podium zu uns herüber.

Den Rücken hielten uns drei unglaublich nette junger Polizisten frei, die ihre Einsatzleitung erst davon überzeugen mussten, dass die Sperrung der Brücke für den fließenden Verkehr tatsächlich mit der Demoleitung abgestimmt war. Diagonal über dem Sprinter mit der Musikanlage und DJ Christian flatterte unser Motto: »Für eine Welt in Balance.« Dank des unglaublich strahlenden Wetters war es gut bis zum Washingtonplatz zu erkennen. Auf das Pflaster der Brücke hatten wir 8 × 25 m transparente Baufolie geklebt und bereits um 11:00 Uhr, also noch bevor die Auftaktkundgebung richtig los ging, hatten wir unser Traumziel erreicht. Erreicht? Übertroffen — nicht 100, wie wir gehofft hatten, sondern über 200 Paare tanzten Tango argentino auf der Demo am 10. Oktober in Berlin.

Um diese Zeit hatte Christian von ¡el tranvia milonga, unser DJ, der auch schon in Buenos Aires aufgelegt hatte und morgens um fünf im ostwestfälischen Enger losgefahren war, seine technischen Probleme gelöst und man sah ihm an, dass es ihm Spaß machte, von seinem Mischpult-Thron auf dem kleinen Sprinter aus diese großartige Milonga zu bespielen.

 

 

Es war berührend zu sehen, wie die Leute in dicken Wintersachen in ihren Tanz versunken waren, viele trugen unsere T-Shirts, aber noch mehr hatten eigene Kreationen auf ihre Mäntel, Taschen und Jacken gemalt oder befestigt.

Wegen des unglaublichen Andrangs hatte sich der Zug bereits in Bewegung gesetzt. Es wurden immer mehr Menschen – bei uns auf der Brücke war's um 12:00 Uhr rappelvoll, über 200 Paare tanzten und plauderten und die Brückengeländer waren voll mit Menschen, die uns einfach zuschauten. Die Demo-Wagen stellten ihre Musik ab und über die Lautsprecher kamen Zurufe wie: »Hier sind die Freunde von Tango gegen TTIP!« oder »Protest darf auch schön sein!«

Wir selbst kamen kaum zum Tanzen, am häufigsten noch für Foto- oder Videoshooting. Aber der flow war der gleiche inmitten dieser großartigen, bunten community, die aus dem ganzen Land angereist war, viele, wie sie uns erzählten, wären ohne den vertrauten Rahmen einer open air-Milonga nicht auf die Demo gekommen.

Wenn ich Richtung Hauptbahnhof schaute war es irgendwie surreal, dass der Strom der Menschen entlang der Spree überhaupt nicht abriss. Nach einer, nach zwei, nach drei Stunden — einen Augenblick lang fragte ich mich, ob die alle einfach nur im Kreis laufen ...

Ich war im Januar zum zweiten Mal in Berlin auf der »Wir haben es satt!«-Demo gewesen. 2014 waren es ca. 15.000, 2015 bereits über 50.000 Teilnehmer·innen gewesen und ich war in den letzten Wochen vor dem 10. Oktober zunehmend sicherer geworden, dass mindestens dreimal so viele Menschen gegen TTIP & Co. in die Hauptstadt kommen würden. Immer wieder hatte ich an die Großdemonstration gegen den NATO-Doppelbeschluss auf den Tag genau 34 Jahre früher im Bonner Hofgarten denken müssen, auf der ich als junge Frau mit 300.000 Menschen gebannt Coretta Scott-King, Heinrich Böll und dem Friedensforscher Robert Jungk gelauscht hatte. Der Vergleich mit damals passte schon: Was für eine selbstbewusste, friedliche und kreative Bewegung war dies ...

Nach vier Stunden schauten wir auf die Rücklichter des letzten Demowagens. Die Polizisten halfen uns beim Einpacken unserer Folie, und als wir uns für die großartige Unterstützung bedanken wollten sagte ein Älterer von ihnen in bestem Berlinerisch, dat wäre die netteste Demo jewesen, auf die er uffzupassen jehabt hätte, friedlich, anjenehm für's Ooge und — mit Blick zum DJ — für's Oaa ooch. Wir dürften wiederkommen. Und dann erklärte er uns noch eine Schleichroute, auf der wir mit unserer Sondergenehmigung als Führer eines Versammlungsfahrzeugs in wenigen Minuten unter der »Gold-Else« standen, wie die unnachahmlichen Berliner die Siegessäule nennen.

Auf der Fahrt hatte ein kurzer Suchlauf in unseren Smartphone-Browsern erstaunliches ergeben: ZEIT, SZ, Spiegel-online ... alle zeigten Ergebnisse bei der Eingabe »Tango gegen TTIP«, nicht selten als Schlagzeile, und in der Westfälischen Zeitung waren wir sogar »Bild des Tages« ...

Wieder halfen uns Polizisten und erlaubten uns nach einem kurzen Anruf, eine unserer beiden Planen am Seitenstreifen noch einmal auszurollen und weiter zu tanzen. Einige Posts auf Facebook und Twitter — und unsere Fans hatten uns auch hier gefunden.

Nach 7 Stunden hatten wir endgültig »keine Füße mehr«, wie man im Jargon sagt und bauten im Abendlicht, das von hinter der Goldelse auf die Chaussee fiel, unsere Sachen zusammen. What a day!

Für eine Welt in Balance!

Herzlich Eure
Katharina